Eltern zu sein ist eine der erfüllendsten, aber auch herausforderndsten Aufgaben im Leben. Wenn du jedoch ein Kind hast, das nicht ins „Schema F“ passt – sei es durch Hochbegabung, ADHS, Autismus, Dyslexie, Hochsensibilität oder andere Neurodivergenzen – wird das Familienleben oft noch komplexer. Diese neurodiversen Kinder sind besonders, und sie brauchen ebenso besondere Unterstützung. Gleichzeitig stellen sie ihre Eltern vor Herausforderungen, für die es manchmal keine einfachen Lösungen gibt.
Und: Viele Eltern neurodivergenter Kinder sind selbst neurodivergent. Da Neurodivergenz eine starke genetische Komponente hat, fällt es häufig auch den Eltern schwer, sich selbst, ihr Kind und die oft sehr fordernden Alltagsstrukturen in Einklang zu bringen. Diese doppelte Herausforderung kann überwältigend sein, birgt aber auch die Chance für ein tieferes Verständnis – für sich selbst und für das eigene Kind. Denn viele Eltern erkennen erst durch ihr Kind, dass auch sie hochsensibel, hochbegabt oder autistisch sind oder ADHS haben.
In diesem Artikel
Was ist Neurodivergenz?
Neurodivergenz beschreibt eine natürliche Variation der Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Dazu gehören Diagnosen wie ADHS, Autismus, Dyslexie, Dyskalkulie, Tourette-Syndrom oder auch psychische Erkrankungen sowie Hochbegabung oder Hochsensibilität, je nach Definition. Neurodivergente Menschen nehmen ihre Umwelt anders wahr, verarbeiten Informationen auf besondere Weise und haben oft einzigartige Denk- und Lösungsansätze.
Es ist wichtig zu betonen, dass Neurodivergenz keine Krankheit ist, die „geheilt“ werden muss. Vielmehr handelt es sich um eine andere Art, die Welt zu erleben und mit ihr zu interagieren. Doch gerade weil unsere Gesellschaft oft auf neurotypisches Verhalten ausgerichtet ist, können neurodivergente Kinder (und ihre Eltern) schnell an Grenzen stossen.
Besonders aufschlussreich ist die Statistik: Rund 20 % aller Kinder und Jugendlichen sind neurodivergent – jedes fünfte Kind! Viele dieser Kinder leben in einer Umgebung, die auf neurotypische Bedürfnisse ausgelegt ist, was für sie und ihre Familien zusätzliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Häufig liegt leider der Fokus auf den Dingen, die neurodivergente Kinder nicht besonders gut können – also sie seien unkonzentrierter, lauter, können nicht still sitzen, sind zu schüchtern oder zu rasch überreizt. Doch diese Kinder bringen auch wunderbare Fähigkeiten mit, die es zu betonen gilt: Sie sind häufig kreativ, einfühlsam, erkennen Dinge, die anderen verborgen bleiben, oder bringen einzigartige Problemlösungsfähigkeiten mit.
Was ist Neurodiversität?
Neurodiversität ist ein Konzept, das die natürliche Vielfalt neurologischer Funktionen betont. Es beschreibt die Tatsache, dass unsere Gehirne unterschiedlich funktionieren – nicht nur in der Denkweise, sondern auch in Bereichen wie Lernen, Motorik, Struktur, Interaktion, Sprache und Wahrnehmung.
Diese Vielfalt ist ein unbestreitbarer Teil der Natur, und es gibt wissenschaftliche Belege dafür, dass die Evolution nicht aufhörte, Diversität zu erzeugen, bevor sie das menschliche Gehirn „entwarf“ (Legault, 2021). Diese Unterschiede sollten nicht als Defizite betrachtet werden, sondern als eine Bereicherung für die Gesellschaft. Neurodiversität umfasst sowohl neurotypische als auch neurodivergente Menschen und stellt eine tiefere Ebene der menschlichen Vielfalt dar.
Das Konzept der Neurodiversität entstand in den 1990er-Jahren innerhalb der autistischen Community, inspiriert durch die Arbeit von Jim Sinclair und anderen Mitgliedern des Autism Network International. Die Soziologin Judy Singer prägte den Begriff und bezog sich ursprünglich auf Menschen im Autismus-Spektrum. Heute wird Neurodiversität als ein inklusiver Begriff verstanden, der alle Menschen mit einschliesst. Häufig wird der Begriff jedoch auch zur Bezeichnung von neurodivergenten Menschen verwendet, viele Personen diesen Begriff passender finden.
Ist mein Kind neurodivergent? Anzeichen und Symptome
Eltern fragen sich oft: „Ist mein Kind neurodivergent?“ Neurodivergenz zeigt sich in vielen Formen und kann sich durch unterschiedliche Symptome bemerkbar machen. Wenn du das Gefühl hast, dein Kind sei neurodivergent, dann sprich mit einer Fachperson darüber.
Gewisse Neurodivergenzen, welche Teilweise auch als Entwicklungsstörung definiert werden, können Diagnostiziert werden. Beispielsweise bei Diagnosen im Autismus-Spektrum (ASS) und für ADHS gibt es teilweise lange Wartefristen. Wichtig ist es, bei einem Experten die Diagnose vornehmen zu lassen. Zwischen den Neurodivergenzen kommt es häufig zu Fehldiagnosen. Beispielsweise werden hochbegabte Kinder teilweise erst mit ADHS oder ASS diagnostiziert.
Da ich häufig danach gefragt werde, möchte ich hier eine Liste mit dir teilen, ohne den Anspruch zu haben, wirklich eine Aussage über dein Kind treffen zu können.
- Extremes Erleben von Emotionen und Herausforderungen in der Emotionsregulation
- Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit
- Intensives Bedürfnis nach Routine und festen Abläufen oder Ablehnung von Strukturen
- Besondere sensorische Empfindlichkeit oder auch Unempfindlichkeit darauf
- Ein ungewöhnlich schneller oder langsamer Lernprozess in bestimmten Bereichen
- Soziale Herausforderungen, Schwierigkeiten, nonverbale Signale zu deuten oder geringe kommunikative Kompetenzen
- Tiefe und intensive Interessen, die über lange Zeit verfolgt werden
- Andere Denkweise: Abstrakter, vernetzter, schneller, langsamer, kreativer, grosse Zusammenhänge erkennen, Dinge aus verschiedenen Perspektiven beleuchten
- Dinge wahrnehmen, die anderen entgehen – z. B. Nuancen, Details oder eine Stimmung, die im Raum liegt
- Hohe oder geringe Empathiefähigkeit
- Viel Zeit allein brauchen zum Aufladen
- Rasch auftretende Langeweile, Unterforderung oder Überforderung
- Stimming (Selbststimulierendes Verhalten zur Beruhigung)
Besonders wichtig ist, dass Eltern auf ihr Bauchgefühl hören. Wenn du das Gefühl hast, dass dein Kind anders tickt als Gleichaltrige, kann eine frühzeitige Diagnostik Klarheit schaffen. Je früher eine Diagnose gestellt wird, desto besser können Eltern und Pädagog:innen ihr Kind unterstützen.
Möchtest du mit jemandem darüber reden? Melde dich gerne bei mir: goni@mamaleicht.ch
Diagnose Ja oder Nein
Viele Eltern sind zurückhaltend, wenn es um Diagnostik geht, weil sie unsicher sind, ob das wirklich nötig ist, was die Reaktionen aus dem Umfeld sind und auch nicht wissen, was sie und ihr Kind dort erwartet. Viele wollen verhindern, dass ihr Kind in eine Schublade gesteckt wird.
Wenn wir uns als Eltern jedoch fragen, wie wir unsere neurodivergenten kinder besser begleiten können, so kann eine Diagnose das Fundament der weiteren Begleitung bilden. Durch die Diagnose oder Abklärung bekommt man ein klareres Bild davon, in welchem Bereich sich das Kind bewegt und welche Unterstützung es braucht. Diese bezieht sich nicht etwa nur auf seine Übungsfelder (auch Schwächen oder Probleme genannt, doch das gefällt mir nicht so gut), sondern ein besonderes Augenmerk kann auch auf die Stärken und Fähigkeiten gerichtet werden und das Kind darin unterstützt werden, diese zu fördern.
In einer neuroinklusiven Welt bräuchte es vielleicht wirklich nicht immer eine Diagnose oder Abklärung – doch leben wir nicht in einer solchen Welt. Unsere Welt ist zu einem grossen Teil von neurotypischen Menschen für neurotypische Menschen eingerichtet worden – die Neurodivergenten fallen hier oft durch das Raster und sie brauchen Nachsicht, Unterstützung und Hilfsmittel, um in dieser Welt gut zurecht zu kommen.
Hierzu finde ich das Beispiel aus einer Erhebung vom Psychiater Michael Jellinek sehr eindrücklich; ein Kind mit ADHS hat bis zu seinem 10. Lebensjahr 20000 negative Kommentare mehr gehört als Gleichaltrige ohne ADHS.
Die doppelten Herausforderungen: Wenn Eltern auch neurodivergent sind
Da Neurodivergenz oft eine grosse genetische Komponente hat, sind viele Eltern neurodivergenter Kinder selbst neurodivergent – oft ohne es zu wissen. Vielleicht hast du selbst Schwierigkeiten mit Reizüberflutung, bist impulsiv oder kämpfst mit deiner Organisation und Struktur. Diese Aspekte können im Familienalltag eine besondere Dynamik erzeugen:
- Hohe Empfindsamkeit auf beiden Seiten: Wenn du als Elternteil selbst hochsensibel bist, spürst du die Stimmungen deines Kindes möglicherweise sehr intensiv. Das kann ein Geschenk sein, weil du leichter empathisch reagieren kannst – aber es kann auch schnell zu Überforderung führen.
- Reizüberflutung im Familienalltag: Der Alltag mit Kindern ist oft laut, chaotisch und unvorhersehbar. Für neurodivergente Eltern, die vielleicht selbst Schwierigkeiten mit Lärm, Unordnung oder Veränderungen haben, kann das besonders herausfordernd sein.
- Organisationsprobleme: Eltern neurodivergenter Kinder stehen vor komplexen Aufgaben: Arzttermine, Therapien, Förderprogramme – das alles will organisiert sein. Wenn du selbst Schwierigkeiten mit Zeitmanagement und Planung hast, wird dieser Druck noch grösser.
- Selbstzweifel: Viele neurodivergente Eltern haben das Gefühl, den Anforderungen des Alltags nicht gerecht zu werden. Sie vergleichen sich mit anderen Eltern, die scheinbar mühelos alles im Griff haben, und fühlen sich oft ungenügend.
- Unbearbeitete Kindheitserfahrungen: Wenn du selbst neurodivergent bist und als Kind wenig Unterstützung erfahren hast, können alte Wunden aufbrechen. Die Begleitung deines Kindes kann dann zur emotionalen Herausforderung werden, weil sie dich an deine eigenen schwierigen Erfahrungen erinnert.
Die Herausforderungen des Alltags mit einem neurodiversen Kind
Unabhängig davon, ob die Eltern selbst neurodivergent sind, ist der Alltag mit einem neurodivergenten Kind oft besonders anspruchsvoll. Hier sind einige der häufigsten Herausforderungen:
- Reizüberflutung: Kinder mit hoher Sensibilität oder ADHS reagieren oft stärker auf ihre Umgebung. Ein einfacher Familienausflug kann schnell in einem emotionalen Zusammenbruch enden, wenn die Eindrücke zu überwältigend werden.
- Unterschiedliche Bedürfnisse in der Familie: Während ein Kind vielleicht stundenlang allein lesen möchte, verlangt das andere ununterbrochene Aufmerksamkeit oder braucht besonders viel Bewegung. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse können Eltern in alle Richtungen ziehen und zu einem Gefühl der Zerrissenheit führen.
- Schwierigkeiten in der Schule: Viele neurodivergente Kinder haben Probleme, sich in das starre Schulsystem einzufügen. Als Elternteil wirst du dann oft zum Vermittler zwischen Lehrkräften, Therapeuten und deinem Kind – ein Job, der Energie und Geduld erfordert. Viele erfahren hier Frustrationen, weil sie merken, dass ihr Kind nicht genügend unterstützt wird, sei es wegen fehlender Ressourcen, geringem Know-How oder Überforderung.
- Vorurteile und Missverständnisse: Neurodivergenz ist nicht immer sichtbar. Wenn das Verhalten deines Kindes von aussen als „ungezogen“ oder „faul“ interpretiert wird, belastet das oft auch dich als Elternteil. Du fühlst dich missverstanden und stehst unter Druck, dich und dein Kind rechtfertigen zu müssen.
- Ein Gefühl der Isolation: Viele Eltern neurodivergenter Kinder fühlen sich allein mit ihren Sorgen. Sie erleben, dass typische Erziehungsratschläge nicht funktionieren, und haben das Gefühl, niemand versteht sie.
Unterstützung für neurodivergente Kinder: Individuelle Wege finden
Neurodivergente Kinder benötigen eine Umgebung, die ihre individuellen Stärken fördert und ihre Herausforderungen berücksichtigt. Es gibt keine allgemeingültige „richtige“ Herangehensweise – jede Familie und jedes Kind ist einzigartig. Vielmehr geht es darum, gemeinsam Wege zu finden, die für dein Kind funktionieren.
1. Akzeptanz und Verständnis
Ein unterstützendes Umfeld beginnt mit Akzeptanz. Dein Kind ist nicht falsch oder defizitär – es nimmt die Welt auf seine eigene Weise wahr. Indem du dich mit seiner Neurodivergenz auseinandersetzt, seine besonderen Bedürfnisse erkennst und seine Art der Weltwahrnehmung ernst nimmst, kannst du eine Atmosphäre schaffen, in der es sich sicher fühlt.
2. Struktur mit Flexibilität verbinden
Viele neurodivergente Kinder profitieren von klaren Strukturen. Tagespläne, visuelle Hilfsmittel und Routinen geben Sicherheit und helfen, Stress zu reduzieren. Gleichzeitig ist es wichtig, flexibel zu bleiben und auf spontane Bedürfnisse einzugehen. Manche Kinder brauchen vorhersehbare Abläufe, andere wiederum profitieren von variablen Gestaltungsmöglichkeiten.
3. Kommunikation anpassen
Neurodivergente Kinder nehmen Sprache und soziale Signale oft anders wahr. Manche benötigen klare, direkte Anweisungen, während andere Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu verbalisieren. Unterstützte Kommunikationstools, Bildkarten oder schriftliche Anweisungen können helfen, Missverständnisse zu vermeiden und den Austausch zu erleichtern.
4. Individuelle Lernwege ermöglichen
Das traditionelle Schulsystem ist oft nicht optimal für neurodivergente Kinder. Frühzeitige Gespräche mit Lehrkräften können helfen, individuelle Anpassungen zu besprechen. Dazu gehören Nachteilsausgleiche, alternative Prüfungsformate oder angepasste Unterrichtsmethoden. Auch sensorische Anpassungen, Bewegungsangebote und gezielte Pausen können das Lernen erleichtern.
5. Selbstregulation unterstützen
Viele neurodivergente Kinder haben Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren. Strategien wie Atemübungen, Bewegungspausen oder Rückzugsorte können helfen, das Nervensystem zu beruhigen. Auch sensorische Hilfsmittel wie Gewichtsdecken oder geräuschdämpfende Kopfhörer können unterstützend wirken.
6. Stärken erkennen und fördern
Neurodivergente Kinder hören oft, was sie „nicht können“. Dabei ist es essenziell, ihre Stärken bewusst zu machen und gezielt zu fördern. Ob kreatives Denken, Kreativität, Mustererkennung, Empathie, innovatives Denken, detailgenaue Wahrnehmung oder unkonventionelle Problemlösung – jedes Kind hat seine besonderen Fähigkeiten. Diese zu betonen stärkt das Selbstbewusstsein und die Motivation. Dies verändert auch den Blick des Kindes auf sich selbst, wenn wir diese Stärken in den Mittelpunkt stellen.
Was du noch tun kannst, um dein neurodiverses Kind und dich selbst zu unterstützen
- Informiere dich: Wissen hilft, dein Kind besser zu verstehen. Lies Bücher, höre Podcasts oder nimm an Webinaren über Neurodivergenz teil. Ein sehr empfehlenswertes Buch ist: «Ein Kopf voll Gold» von Saskia Niechzial*
- Hol dir Unterstützung: Lass dich von einer passenden Fachperson begleiten. Dies können Ansprechspersonen bei der Schule sein, bei deiner Gemeinde, Beratungsstellen, ein:e Psycholog:in oder Psychiater:in oder ein:e Coach. Wenn du dir selbst Unterstützung wünschst dabei, besser mit dem herausfordernden Alltag mit deinem neurodivergenten Kind zurecht zu kommen, dann könnte eine flexible Begleitung per E-Mail oder Messenger vielleicht etwas für dich sein. Dabei suchen wir individuelle Möglichkeiten, wie du den Alltag entspannter meistern und dein Kind wieder mehr geniessen kannst.
- Verbinde dich mit anderen Eltern: Der Austausch mit anderen Familien neurodivergenter Kinder kann wertvolle Tipps und emotionale Entlastung bieten.
- Setze dich für Inklusion ein: Schule, Freizeitangebote und Gesellschaft sind oft noch nicht auf neurodivergente Menschen eingestellt. Du kannst durch Aufklärung und Engagement dazu beitragen, die Welt für dein Kind zugänglicher zu machen.
Goni Boller ist Mentorin und Coach für Mütter, die einen gelasseneren und klareren Umgang mit ihren bedürfnisstarken und vielseitigen Kindern finden möchten. Sie unterstützt Eltern dabei, herausfordernde Situationen besser zu meistern, mehr Ruhe und Sicherheit im Familienalltag zu gewinnen und die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick zu behalten. Mit ihrem Wissen aus Hirnforschung, Neurodiversität, Psychologie und der kindlichen Entwicklung begleitet sie Mütter auf ihrem individuellen Weg, ein achtsames und stärkendes Familienleben zu gestalten.
Gemeinsam finden wir die passenden Stellschrauben für dich und deine Familie, für eine Elternschaft, die zu dir passt. Und plötzlich geht alles viel leichter.