Im ersten Moment glauben wir gerne es wäre das unmögliche Verhalten des Kindes, welches uns so wütend macht.

Doch das ist wohl das Einzige, was wir ausschliessen können.

Denn was dich wütend macht, lässt jemand anderes völlig kalt. Also kann es kaum an der Situation an sich liegen, sonst müsste es uns alle genau gleich wütend machen.

Wenn dein Kind mit schmutzigen Schuhen durch das Haus läuft, dann lässt dich das vielleicht völlig kalt und du denkst «Ach, ich wollte sowieso wieder mal putzen.»

Während jemand anderes fast die Wände hochgeht, wenn ein Kind nur kurz was holen wollte und dabei ganz unabsichtlich drei Fussabdrücke im Flur hinterlassen hat.

Also es ist nicht das Verhalten des Kindes, was ist es dann?

1.    Du bist ausgelaugt

Du bist völlig fertig, hast keine Energie mehr, fühlst dich ausgelaugt und möchtest nur deine Ruhe. Eltern sein kann ganz schön anstrengend sein und entsprechend haben wir an manchen (oder an vielen) Tagen keine Reserve mehr.

Unser Gehirn braucht jedoch Ressourcen, um auf vernünftige, moderne Reaktionen zuzugreifen. Das gelingt in diesem Zustand nicht so gut.

Also greift es auf alte Muster zurück, die tief verankert sind und weniger aufwändig zum Finden sind.

Leider sind das dann oft Verhaltensmuster, von denen wir sagen:

«So wollte ich nie sein.»

Wir kennen diese beispielsweise von unseren eigenen Eltern und haben die selbst verinnerlicht – doch dazu später mehr.

2.    Du bist nicht in Verbindung mit dir selbst

Spürst du dich selbst gut und respektierst du, welche Signale dir dein Körper schickt? Isst du, wenn du hungrig bist? Schläfst du, wenn du müde bist? Gehst du pinkeln, wenn du musst oder erledigst du erst noch dies und das?

Wir dürfen lernen, wieder mehr auf uns und unseren Körper zu hören. Denn wir wissen selbst am besten, was wir brauchen.

Eine Pause

Ruhe

Wertschätzung

Ignorieren wir unsere Bedürfnisse zu oft, dann macht das ärgerlich, ausgebrannt und ausgelaugt. Dann landest du wieder bei Punkt 1 und wirst wütend, weil du ausgelaugt bist.

Kennst du deine Grenzen? Kennst du deine Werte? Kennst du deine Stärken?

Beachten wir diese grundlegenden Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale stärker, werden wir ausgeglichener und gelassener. Tun wir es nicht – du ahnst es schon – kommt die Wut und erinnert uns daran.

3.    Deine Muster, Prägungen und Glaubenssätze

Wie beim ersten Punkt erwähnt greift unser Gehirn gerne auf altbekannte Muster zurück, um in stressigen Situationen zu reagieren. Warum? Weil es aus irgend einem Grund keinen guten Zugriff auf den präfrontalen Kortex hat, wo unsere Planung, die Vernunft und mehr seinen Platz hat.

Dafür greift es auf Verhaltensmuster zurück, die vor langer Zeit gespeichert wurden.

Oder sogar nur noch auf Fight, Flight, Freeze. Dazu mehr unter dem nächsten Punkt.

Diese Verhaltensmuster haben wir oft in der Kindheit von unseren Eltern oder anderen Autoritätspersonen abgeschaut. Unser Gehirn hat gespeichert, dass dies mögliche Reaktionen auf bestimmte Situationen sind.

Bist du nun in der heutigen Zeit überfordert von einem Verhalten deines Kindes, so greift das Gehirn auf die altbekannte Information zu und spult das alte Verhaltensmuster ab.

Oft realisiert du dann erst hinterher, dass du etwas gesagt hast oder auf eine Art reagiert hast, wie du es gar nicht wolltest.

Zusätzlich machen die Muster, Prägungen und Glaubenssätze, dass wir gewisse Verhaltensweisen als «das macht man nicht» ablehnen, obschon das vielleicht mit uns gar nichts zu tun hat.

4.    Du bist im Notmodus

Wir haben einen super Notmodus eingebaut. Sind wir in Gefahr schaltet unser Gehirn um, schaltet das langsame, vernünftige Denken aus und aktiviert unsere primitiven Reaktionen.

Gestartet wird das Ganze im sogenannten limbischen System, genauer in der Amygdala. Dort wird blitzschnell entschieden, ob Gefahr droht oder nicht. Das kannst du mit deinem Bewusstsein gar nicht direkt beeinflussen. Dafür bist du zu langsam.

Wird entschieden, dass Gefahr droht, hast du nur noch 3 Verhaltensoptionen: Kampf, Flucht oder Erstarren (Fight, Flight, Freeze). Entscheidest du dich für Kampf, dann wird dies als Wut erscheinen.

Stehen wir auf der Strasse und ein Bus fährt auf dich zu, dann ist diese unbewusste, rasche Reaktion überlebenswichtig. Obschon in diesem Beispiel zu hoffen ist, dass die Entscheidung zur Flucht getroffen wird.

Wenn jedoch dein Kind seinen Orangensaft verschüttet hat, ist die Frage, ob diese Reaktionsoptionen sinnvoll sind.

5.    Du lässt deine Wut nicht zu

Das war für mich definitiv ein Thema. Denn Wut, so dachte ich, sollte gar nicht gefühlt werden. Ich wusste nicht, dass jedes Gefühl wichtig ist und gefühlt werden sollte.

Ich hatte auch nicht verstanden, dass Gefühle viel länger haften bleiben, wenn wir sie versuchen nicht zu fühlen.

Viele Frauen haben erlebt, dass in ihrer Kindheit Wut nicht erwünscht war.

«Reiss dich doch mal zusammen

«Ich spiele erst wieder mit dir, wenn du dich beruhigt hast.»

«Sie hat mal wieder eine ihrer Phasen.»

Solche und ähnliche Aussagen haben wir gehört und immer besser gelernt, die Wut wegzudrücken. Nur ist sie nicht weg. Vielleicht sucht sie sich andere Wege, um an die Oberfläche zu kommen oder sie explodiert plötzlich wegen einer Kleinigkeit.

Mein Weg, um meine Wut kennenzulernen und sogar mögen zu lernen, war ein langer. Und ich bin noch nicht am Ende angelangt. Doch habe ich keine Angst mehr vor meiner Wut und sie bleibt auch nie lange da.

Weil ich gelernt habe, ihr zuzuhören.

Der Wut zuhören

Echt jetzt? Hast du gedacht, als ich geschrieben habe, ich hätte gelernt der Wut zuzuhören.

Du wolltest sie doch loswerden, nicht zuhören.

So ging es mir auch und ich wollte kaum glauben, als ich gelesen habe, ich solle lernen die Wut zuzulassen.

Jedes Gefühl sei wichtig.

Quatsch.

Doch – jedes Gefühl ist wichtig. So auch deine Wut. Sehr wichtig.

So brauchst du gar nicht mehr zu überlegen, wohin du mit deiner Wut sollst. Sie darf bleiben.

Klar ist sie unangenehm. Doch lasse ich sie bewusst da sein, spüre sie, höre ihr zu und lasse sie dann auch genau so bewusst wieder losziehen – dann ist das sehr viel weniger unangenehm, als zu versuchen sie wegzudrücken.

Denn dann kommt sie immer wieder. Und wieder. Und wieder.

Manchmal nachts, wenn ich lieber schlafen möchte und manchmal explosionsartig in den unmöglichsten Momenten.

Warum kann die nicht einfach weg bleiben?

Alle Gefühle sind wichtig

Mein Lieblingsbuch zum Thema ist «Gefühle und Emotionen – Eine Gebrauchsanleitung» von Vivian Dittmar*. Sie schreibt folgendes zur Wut:

«Wut entsteht als Reaktion auf die Interpretation «Das ist falsch». Ich kann die Interpretation «Das ist falsch» nur dann treffen, wenn ich eine klare Position habe, da es im absoluten Sinn kein Richtig oder Falsch gibt.»

Also wenn ich denke: «Mit schmutzigen Schuhen durchs Haus laufen ist falsch.», dann ist das meine Position. Genau so, wie es Menschen gibt, die drinnen Schuhe tragen und andere ziehen sie schon aus, bevor sie überhaupt in die Wohnung eintreten.

Weiter gibt Dittmar an, dass wir die «Wutkraft» brauchen, um

  • klar «Ja» oder «Nein» zu etwas zu sagen und somit, um Entscheidungen zu treffen
  • Klarheit zu haben und eine klare Position zu beziehen
  • für andere greifbar zu sein und ernst genommen zu werden
  • klare Ziele zu haben und zu wissen, was wir wollen
  • zu entscheiden, wer wir sind und um klare Grenzen zu setzen

Oh, Grenzen also auch – so ein wichtiges Thema für uns Eltern.

All diese Dinge gelingen dir viel schlechter, wenn du deine Wut nicht zulässt.

Hast du zu viel der Wut, dann bist du aggressiv, cholerisch, kritisch und frustriert.

Hast du zu wenig, dann bist du unklar, zweifelnd, grenzenlos und entscheidungsunfähig.

Bei uns Eltern ist da oft ein Mix von mal zu viel und mal zu wenig.

Und jetzt? Wie kannst du lernen deine Wut zuzulassen – fragst du dich?

Vielleicht hilft dir die folgende Übung:

Die Wut da lassen – eine Übung für dich.

Deine Wut muss nirgendwo hin. Sie möchte gefühlt werden. Sie hat eine Botschaft für dich.

Das Faszinierende finde ich, dass die Wut tatsächlich viel schneller wieder verflogen ist, wenn wir sie da sein lassen.

So funktioniert es:

Stelle fest: Ok, ich bin wütend.

Wie fühlt sich das an?

Wo im Körper kannst du es fühlen?

Hast du ein Bild dazu im Kopf?

Wie könntest du die Wut regelmässig an den Tisch holen und mit ihr diskutieren?

Wenn die Wut eine Botschaft hätte – was wäre diese?

Stelle dir beim Beantworten der letzten Frage vor, dass deine Wut nur das Beste für dich möchte.

Wünschst du dir einen Notfallplan, um öfter in herausfordernden Situationen die Nerven zu behalten? Hier kannst du es dir herunterladen: Mama, bleib gelassen.

Wohin mit meiner Wut? Noch eine Übung.

Ich schreibe sehr gerne, um mich mit Themen auseinanderzusetzen.

Nimm dir also ein schönes Buch oder einfach irgendein Papier und beantworte folgende Fragen:

  • In dieser Situation bin ich wütend geworden (beschreibe die Situation möglichst neutral)?
  • Was waren meine Gedanken über mein Kind / über mich?
  • Was hätte ich sonst denken können?
  • Oder Was hätte jemand anderes über diese Situation gedacht?
  • Was hätte ich in dieser Situation gebraucht?

Ich wünsche dir ganz viel Erfolg beim Zulassen, Hinhören und Reinspüren.

Hast du keine Ahnung, wo anfangen und wie du mit deiner Wut ins Gespräch kommen kannst? Dann melde dich bei mir und wir schauen das gemeinsam an: goni@mamaleicht.ch oder reserviere einen Termin zum Plaudern mit mir.

Herzlich,

deine Goni