Der Zeigefinger hebt sich, die Stimme färbt sich dunkel und wird lauter. Mein Sohn schrumpft ein paar Zentimeter.
Mein Sohn liebt Blumen. Meine Nachbarin liebt die Pflanzen in ihrem Garten und hat sich gar nicht gefreut, als mein Sohn heimlich zwei gelbe Schwertlilien und eine Lauch-Blüte abgerissen hat.
So kam es, dass wir vor ihr standen und sie mit ihm geschimpft hat. Ich war selbst erst etwas überrumpelt.
Als sie fertig war, entstand eine kurze Pause. Dann begann mein Sohn zu weinen.
Ich habe ihn getröstet und die Nachbarin war verunsichert. Sie hätte das doch unbedingt loswerden wollen, doch diese Reaktion von meinem Sohn habe sie nicht erwartet.
In diesem Artikel
Warum ich nicht mit meinen Kindern schimpfe
Schimpfen bewirkt nicht das, was ich möchte, es schadet dem Selbstwert meines Kindes und unserer Beziehung.
Schimpfen ist eine Art der Bestrafung. Das Kind hat etwas getan, was ich nicht gut finde und darum demütige ich es nun.
Dahinter sehe ich zwei Gründe.
Einerseits möchte ich, dass es dem Kind schlecht geht, damit es nie mehr eine Blume abreisst, ohne zu fragen. Also eine Strafe, um ein bestimmtes Verhalten zu verhindern.
Andererseits fühle ich mich schlecht. Denn die Situation ist anders, als ich es möchte. Durch das Schimpfen soll es dir nun auch schlechter gehen. Schliesslich bist du «Schuld», dass ich mich so fühle.
Doch das Kind ist nie Schuld an unseren Gefühlen. Dafür dürfen wir die Verantwortung selbst übernehmen. Auch ist es unsere eigene Zuständigkeit, wieder aus dem Stimmungstief zu kommen. Rache wird dabei kaum helfen.
Natürlich sage ich meinem Kind, dass ich das nicht möchte. Das ist jedoch nicht dasselbe wie schimpfen.
Schimpfen ist der Moment, wo ich belehrend, wütend, mit erhobenem Zeigefinger und dunkler, lauter Stimme auf mein Kind einrede. Wir sind nicht im Gespräch. Ich halte einen Monolog, der nur darauf abzielt meinen Standpunkt ganz klar zu machen und dem Kind zu zeigen, dass es falsch ist, falsch lag oder sich falsch verhalten hat.
Das bleibt beim Kind hängen: Ich bin falsch.
Oder: Du bist gemein.
Aber das Schimpfen funktioniert doch?
Wenn es mir nur darum geht, dass mein Sohn nie mehr eine Blume abreisst – dann funktioniert das Schimpfen vielleicht. Wenn er sich genug erschreckt hat und schlecht gefühlt, dann tut er das möglicherweise wirklich nicht mehr oder zumindest nur so, dass es keiner merkt.
Mit 4 Jahren ist seine Impulskontrolle nicht fertig ausgebildet, also wird er vielleicht doch wieder eine Blume abreissen.
Weiterbringen wird uns das Schimpfen jedoch nicht. Die Blumen sind abgerissen, die können wir nicht wieder ankleben.
Dafür leidet die Beziehung. In unserem Fall die Beziehung zwischen der Nachbarin und meinem Sohn. Die beiden hatten sich echt gut verstanden und er hat sie oft im Garten besucht. Gemeinsam haben sie Blumen bewundert und Sträusse gesammelt.
Nun wollte mein Sohn nicht mal mehr in meiner Begleitung zu ihr rüber.
Was bewirkt Schimpfen?
Schimpfen bewirkt, dass das Kind das Gefühl hat, es sei falsch. Es sei zu wenig vorsichtig, zu wenig einfühlsam, zu wenig brav, zu wenig mutig, was auch immer der Grund für das Schimpfen war.
Zusätzlich tut Schimpfen weh. Der Psyche des Kindes fügt schimpfen Schmerz zu, so wie eine äusserliche Verletzung dem Körper Schmerz zufügt.
Das Kind kommt während der Standpauke in einen Notmodus. Das paradoxe daran ist, dass ein Kind in diesem Modus nicht lernen kann.
Also lernt es nix.
Die Nachbarin hat ihr Schimpfen gerechtfertigt mit: «Er muss es doch lernen.» So begründen viele Eltern, dass sie mit den Kindern schimpfen. Doch genau das passiert nicht.
Nicht durch schimpfen.
Eine gute Lernumgebung bietet Sicherheit.
Wird mit einem Kind geschimpft, fühlt es sich alles andere als sicher. Es wird eher durch eine der Stressreaktionen auf die Anschuldigungen reagieren. Also durch Kämpfen, Fliehen oder Einfrieren.
Mein Sohn ist vor der Nachbarin eingefroren. Ich auch im ersten Moment. Zum Glück bin ich schon gross und konnte so die Standpauke nach kurzer Zeit freundlich stoppen.
Was tun statt schimpfen?
Ich möchte nicht, dass mein Kind in Nachbars Garten Blumen stiehlt. Mir ist Ehrlichkeit ein wichtiger Wert und ich möchte nicht, dass wir etwas stehlen.
Diesen Wert möchte ich meinem Kind vermitteln.
Durch Schimpfen wird mir das nicht gelingen. Dabei wird höchstens abgespeichert: «Wenn ich beim Blumen-Holen erwischt werde, dann ist das unangenehm.»
Das ist definitiv nicht, was ich meinem Kind vermitteln möchte. Noch weniger möchte ich meinem Kind vermitteln, dass es selbst nicht ok ist, so wie es ist.
Nicht zu schimpfen heisst keineswegs, dass ich das Verhalten gutheisse.
Auf keinen Fall werde ich mein Kind ignorieren.
Eine starke Beziehung zu meinem Kind ist mir wichtig und diese basiert unter anderem auf einer offenen Kommunikation. Das bedeutet, ich rede mit meinem Kind.
Ich erkläre ihm, warum ich es nicht gut finde, wenn Dinge von anderen Menschen genommen werden. Mein Sohn muss sich nicht schlecht fühlen. Er darf sich gut fühlen und dabei lernen, was mir wichtige Werte sind.
Ich höre mir auch an, was bei ihm los war.
«Ich weiss, dass ich keine Blumen bei der Nachbarin abreissen soll. Aber ich habe es vergessen.»
Er ist 4 Jahre alt. Das ist ok. Das kann passieren.
«Was können wir in Zukunft tun, dass du das nicht mehr vergisst?»
«Mit mir zusammen in den Garten kommen.»
Wunderbar. Lösung gefunden.
Gesellschaftliche und soziale Regeln sind kompliziert für Kinder
Es braucht viele Jahre, viel Übung und gute Vorbilder, um zu lernen, wie das gesellschaftliche Zusammenleben funktioniert.
Wir alle machen Fehler und sind selbst auch froh, wenn uns diese vergeben werden.
Unsere Kinder können wir beim Lernen unterstützen, indem wir mit ihnen in den Austausch gehen.
Dazu gehört, dass wir wütend werden und unserer Wut Ausdruck verleihen, ohne zu verletzen. Kinder sollen erkennen, dass uns Dinge ärgern.
Es ist ok, dass die Nachbarin wütend oder traurig über die verlorenen Blumen ist.
Ich habe hinterher mit meinem Sohn besprochen, wie das mit dem Schimpfen ist und dass es viele Menschen gibt, die glauben, das müsste man tun. Wir haben über Eigentum gesprochen, über Impulskontrolle und über das Zulassen von Gefühlen.
Es war ein starkes Gespräch.
Und ich bin fühle mich wieder darin bestätigt, dass unser Weg für uns genau richtig ist.
Auch habe ich noch etwas mehr Mitgefühl entwickelt. Mein Sohn auch.
Bilder: Canva
Goni Boller ist Mentorin und Coach für Mütter, die einen gelasseneren und klareren Umgang mit ihren bedürfnisstarken und vielseitigen Kindern finden möchten. Sie unterstützt Eltern dabei, herausfordernde Situationen besser zu meistern, mehr Ruhe und Sicherheit im Familienalltag zu gewinnen und die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick zu behalten. Mit ihrem Wissen aus Hirnforschung, Neurodiversität, Psychologie und der kindlichen Entwicklung begleitet sie Mütter auf ihrem individuellen Weg, ein achtsames und stärkendes Familienleben zu gestalten.